DIE VERDRÄNGUNG DES SPIELS

Foto: Erik Biembacher
Foto: Erik Biembacher

Das Spiel ist eine fundamentale Kategorie des menschlichen Verhaltens, ohne die es keine Zivilisation gäbe. Ritual, Tanz, Folklore, Musik sind Künste, die aus dem Spiel geboren wurden. Bis ins Industriezeitalter hinein haben Menschen mehr Zeit mit Spiel als mit Arbeit verbracht. Noch im Mittelalter waren die Hälfte der Tage Feier- oder Festtage. Das Leben und die Ökonomie gaben sich lebhaft und zeichneten sich durch wechselnde Sinneseindrücke aus. Die Märkte waren die Bühne des Lebens und die Händler die Improvisationskünstler.



„Spiel hat in seinem Wesen nach viel mit Teilnahme zu tun; gespielt wird im Allgemeinen in direkten Begegnungen, in abgeschlossenen Umgebungen; (...) es bezieht den Körper auf eine Weise mit ein, dass es das ganze Spektrum menschlicher Sensibilität blühen lässt. (...) Offenheit und Akzeptanz sind Kennzeichen spielerischer Umgebungen.“ (Rifkin: 353)

Erst in der Moderne rückte die Arbeit in den Vordergrund und wurde zum Gebieter über das menschliche Tun, das Spiel wurde zu einer unwesentlichen Handlung degradiert. Wurde in anderen Kulturen Spiel zu einem gemeinsamen Ritual weitergeführt, bediente sich die kapitalistische Gesellschaft der Kraft des Spiels lange Zeit nicht. Mit Eintritt in die Erwachsenenkultur wurde die spielerische Energie ausgelöscht. Der erwachsene Mensch wollte in Ruhe gelassen werden und war immer weniger imstande zu agieren.

 

Im 19. Jahrhundert galt eines der größten Komplimente, einen ‚guten Charakter’ zu haben, der einher ging mit harter Arbeit, Fleiß und Sparsamkeit, mit Tugenden also, die der protestantische Arbeitsethik entsprachen. Einen ‚guten Charakter’ besaß somit ein Mensch, der selbstbeherrscht, diszipliniert und kontrolliert war. Stets war er damit beschäftigt, eine Einheit zwischen innerer Regung und äußerer Erscheinung zu finden, denn das Gefühlsleben musste kontrolliert und Spontaneität unterdrückt werden. Empfindungen jeder Art wurden hinter einer sehr gleichförmigen Weise des sich Kleidens und sich Bewegens versteckt. Affekt- und körperbetonte Äußerungsformen wurden sanktioniert, das Kognitive besaß die Vorherrschaft und grenzte die sinnliche und emotionale Welt aus.

 

„Dabei werden nicht nur physische Äußerungsweisen im Alltagsleben (wie z.B. lachen, weinen oder anderes ‚archaisches’ Verhalten), sondern auch in Formen eigener leiblich-künstlerischer Produktivität tabuisiert und in den Bezirk der Kindheit oder der professionellen Künste verbannt.“ (Weintz: 63)

 

aus: Jeremy Rifkin: Access. Das Verschwinden des Eigentums - warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden, Fischer Taschenbuch Verlag, 2002

Jürgen Weintz:Theaterpädagogik und Schauspielkunst: Ästhetische und psychosoziale Erfahrung durch Rollenarbeit, Schibri Verlag, 2007

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