DIE ENTSINNLICHTE WELT

Foto: photocase
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Mit der kommerziellen Verwertung kultureller Erfahrungen und der zunehmenden Vermarktung kultureller Ressourcen in Form bezahlter Unterhaltung erreicht der Kapitalismus eine neue Stufe. Die Unterhaltungsbranche wurde in den letzten 20 Jahren zum schnellsten gewachsenen Wirtschaftszweig.

 

„Heute schon gibt das reiche obere Fünftel der Weltbevölkerung für den Zugang zu kulturellen Erfahrungen genauso viel aus wie für Fertigerzeugnisse und Dienstleistungen.“ (Rifkin: 15)

 

Durch die Verschiebung von der Güterproduktion auf die Dienstleistung begann schon im frühen 20. Jahrhundert der Prozess einer stärkeren Orientierung an Erlebnissen. Die Frage „Was möchte ich haben?“ wich zunehmend dem „Was möchte ich noch erfahren?“. Künstliche Ersatzwelten traten vielfach an die Stelle menschlicher Kommunikation und bedingten einen zunehmenden Verlust an konkreten Erfahrungs-, Gestaltungs- und Kommunikationsräumen. Das Leben in der Gesellschaft der ‚Vernetzten’ begann zu entsinnlichen. Geld hatte schon lange kein Gewicht mehr (wie noch als Lederbeutel in den Mantel – und Degenfilmen), ist nur noch selten fühlbar als Münze oder Schein, sondern meistens eine Zahl auf einem Kassenbon oder Kontoauszug. Durch Fastfood wird der sinnliche Vorgang des Essens auf die elementaren Geschmacksrichtungen von süß, sauer, salzig oder scharf reduziert. Eine Mahlzeit muss schnell gehen und dient zur reinen Erhaltung der Körperfunktionen. Das Surfen im Internet und elektronische Bücher verhindern den Genuss des Geruchs von frischer Druckerschwärze und eines leisen Knisterns des Papiers beim Umblättern.

 


„Ausmaß, Geschwindigkeit und Bewegungsform solcher Prozesse ‚ohne fühlbare Dimension’ betreffen nicht nur den gesellschaftlichen Teilbereich, den wir Ökonomie nennen. Die dynamische Schwerelosigkeit solcher Ökonomie durchdringt die Gesellschaft und das Bewusstsein von ihr als Ganzes.“ (Jürgens: 463)

 

Damit ändern sich psychische Gewohnheiten, soziale Beziehungen und die sprachliche Verständigung. Die Ersatzwelten und flüchtigen Erlebnisse ermöglichen keine nach innen gerichtete Erfahrung, die das Denken herausfordert, den Erfahrungshorizont erweitert und aktives Eingreifen erfordert. Sie werden über ihre aktuelle Wirkung hinaus nicht reflexiv erfasst.

 

„Diese virtuellen Bilderwelten verweigern unmittelbar sinnliche Wahrnehmungen oder eingreifendes Handeln und bieten stattdessen Scheinbewegungen/-begegnungen rund um den Globus, Ersatzerlebnisse jedweder Art.“ (Weintz: 39/40)

 

Die Fülle von Ersatzwirklichkeiten hat teilweise einen höheren Animationsgrad als das Original erlangt. Realität wird manipulierbar und ästhetisch modellierbar, virtuelle Realitäten bleiben nicht länger virtuell, sondern werden zur Realität des Konsumenten. Die elektronische Kommunikation hat wirklichen Kontakt überflüssig gemacht. Eine Verständigung über Realität oder deren Ausschnitte wird durch die Fülle an medialen Zeichensprachen immer schwieriger. Die Vielfalt an Erfahrungen in gesellschaftlichen Bereichen wird durch eine Hinwendung zum individuellen Erleben ersetzt. Dieser „Prozeß der Entwirklichung“ (Weintz: 40) zeigt sich auch in einem weiteren Phänomen: der Ästhetisierung und Theatralisierung aller erdenklicher Lebensbereiche. Die äußere Form steht über dem Inhalt, alles formt sich zu einer Schau- und Erlebniswelt.

 

„Das Schwinden von sinnlich-realer Erfahrung bzw. die Ausblendung von hässlichen Seiten, Ungereimtheiten, Widersprüchen oder Konflikten innerhalb der Wirklichkeit wird durch die oberflächliche Ästhetisierung und Verhübschung aller erdenklichen Lebensbereiche noch verstärkt.“ (Weintz: 27)

 

Das Internet ist ein Privat-Medium, das keine kollektive Erfahrung ausbildet, geht es doch vorrangig um das reine Empfangen kollektiv verfügbarer Daten.

 

„Das Bewusstsein in der Sprache, im Medium der Kommunikation selbst mit den anderen verbunden, damit auch ihnen verpflichtet, verantwortlich zu sein, tritt zurück zugunsten des Kommunizierens als Austausch von Informationen.“ (Lehmann: 468)

 

aus: Jeremy Rifkin: Access. Das Verschwinden des Eigentums - warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden, Fischer Taschenbuch Verlag, 2002

Jürgen Weintz:Theaterpädagogik und Schauspielkunst: Ästhetische und psychosoziale Erfahrung durch Rollenarbeit, Schibri Verlag, 2007

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