DER PROTEISCHE MENSCH

Foto: Ulrike Winkelmann
Foto: Ulrike Winkelmann

Die Zahl junger Menschen, die vor Bildschirmen aufwachsen, steigt kontinuierlich an. Werden auf der einen Seite Befürchtungen laut, dass es in dieser flexiblen Medienwelt zu einem Verlust von tief in der Sozialisation verankerten Erfahrungen käme, erlebt auf der anderen Seite das Bewusstsein des Menschen eine nie gekannte Freiheit, es wird spielerischer und weniger starr. Die Postmoderne ist die Geburtsstunde des ‘proteischen’, des wandelbaren Menschen. Das Experimentieren mit verschiedenen Realitäten und Identitäten muss nicht zwangsläufig in Entwurzelung und Orientierungslosigkeit enden, sondern kann zu mehr Toleranz und Offenheit anderen Menschen und Welten gegenüber führen.


„Sie [die proteischen Menschen] sind in geschlossenen Communities aufgewachsen, (...) haben kurze Aufmerksamkeitsspannen, denken weniger nach und verhalten sich spontaner. Sie sehen sich selbst eher als Spieler denn als Arbeiter, (...) leben in viel kürzeren Zeitspannen, sind mobiler und weniger bodenständig als ihre Eltern. (...) Ihnen gilt die Welt als Bühne und ihr eigenes Leben als Folge von Auftritten. Indem sie in jeder Lebensphase neue Lebensstile ausprobieren, erfinden sie sich fortwährend neu.“ (Rifkin: 250/251)

 


So verwundert es nicht, dass auch in den Künsten der Westlichen Kultur eine Wende  einsetzt, die zu einer neuen Kunstgattung führt, der sogenannten Aktions- und Performancekunst. Diese Kunstform schafft eine Situation,

 

            „(…) welche die Normen und Regeln von Kunst und Alltagsleben, zwischen ästhetische und ethische Postulate versetzt.“ (Fischer-Lichte: 11)

 

Statt Werke für das Theatern zu schaffen, geschehen jetzt „Ereignisse“ im öffentlichen Raum. Es werden Orte gewählt, die  nicht wie die „Kunsttempel“ von der sozialen Wirklichkeit abgeschottet sind, sondern Orte, die auch eine andere als die vorgesehene Verwendung ermöglichen. Sogenannte „Spiel-Räume“ entstehen, atmosphärische Räume wie Markthallen, Fabriken, Parkhäuser, Bahnhöfen und öffentlichen Parks, die eine Fülle von Bewegungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten bereithalten und als neue Erfahrungsräume dienen. Die traditionelle Produzent- Rezipient-Beziehung löst sich zunehmend auf und ein autopoetisches System entsteht, das sich einer inszenatorischen Kontrolle und Steuerung entzieht und ästhetische und soziale Prozesse einander bedingt. Sind diese „Ereignisse“ auch alle sehr unterschiedlich, so weisen sie eine Gemeinsamkeit auf:

 

 „Denn in allen wird etwas verhandelt, das man als Prozesse der Demokratisierung, der Neubestimmung der Beziehungen zwischen den Mitgliedern eines Gemeinwesens    bezeichnen könnte.“ (Fischer-Lichte: 80)

 

Flashmops und öffentliche Inszenierungen als mediales Dispositiv erobern den öffentlichen Raum zurück. Sie gelten als spezielle Ausprägungsformen der virtuellen Gesellschaft, die neue Medien wie Mobiltelefone und Internet benutzt, um kollektve direkte Aktionen zu organisieren und Gemeinschaftserfahrungen zu generieren. Obwohl die Ursprungsidee unpolitisch war, gibt es mittlerweile auch als Flashmob bezeichnete Aktionen mit politischem oder wirtschaftlichem Hintergrund.

 

Flashmops scheinen neben einer zunehmend narzistisch geprägten Gesellschaft, in der der einzelne sich gerne im (virtuellen) öffentlichen Raum inszeniert, auch eine logische Reaktion auf die Vormachtstellung der Medien zu sein, denn sie nutzen

 

  „(…) das Postulat von ‚Unmittelbarkeit‘ und ‚Authentizität‘ geradezu als Waffe im Kampf gegen die Medialisierung (…). Live-Performances [sind] das letzte Residuum, das gegen den Markt und die Medien – und damit gegen die herrschende Kultur – noch Widerstand zu leisten vermag.“ (Fischer-Lichte: 116)

 

aus: Jeremy Rifkin: Access. Das Verschwinden des Eigentums - warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden, Fischer Taschenbuch Verlag, 2002

Erika Fischer-Lichte: Ästehtik des Performativen, edition suhrkamp, 2004

Kommentar schreiben

Kommentare: 0